Karben 7/2021 Aug. 2021

6 7. Zeit und Gleichgültigkeit Sind Sie ein gleichgültiger Mensch? Fragen Sie einen Freund oder Arbeitskollegen danach, wird er Ihnen das Gegenteil erzählen. Vielleicht, dass er ein offener, ehrlicher, zuvorkommender und geduldiger Mensch ist. Sobald Sie sich genauer mit der Frage nach der Gleichgültigkeit beschäftigen, umso mehr werden Sie erfahren, dass dieses gesellschaftliche Phänomen nicht neu ist und weite Verbreitung genießt. Umso mehr ist Ihre Einstellung gefragt, wie Sie sich im Alltagsleben mit diesem Problem persönlich auseinandersetzen. Wie ist ein gleichgültiger Zeitgenosse einzuordnen? Wo finden wir ihn? Wie taktiert er? Wie können Sie ihn in seinen Verhaltensweisen erkennen? Wer im Leben auf festen Füssen steht, behält für alles, was ihn umgibt, einen wachen Sinn und die Courage zu einem eigenen Urteil. Umso wichtiger ist es, einige Gedanken zur Gleichgül- tigkeit zu verlieren. Der Philosoph Pascal schrieb einmal über die Gleichgültigkeit: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere…“ Stellen wir uns Menschen vor, die genauso emp- finden, dann wird klar, wie bedeutsam die Zeit des Erlebens ist. Vor allem dann, wenn soziale Abgrenzung, schwindender Sinn für das Leben, Arbeit und Aussicht auf ein persönliches Wei- terkommen fehlen. Die Folge dieser Frustrationen sind Radikali- sierungen. Ganz besonders bei jungen Leuten besteht die Gefahr, dass sie sich Sekten an- schließen, die ihnen die gesuchte Geborgenheit vermitteln. Vor Jahren gab es dazu ein Begriff: „Null-Bock-Haltung“. Soweit ein allgemeiner Blick auf das gesellschaftliche Phänomen der Gleichgültigkeit. Im Alltag können Sie auf beleb- ten Straßen beobachten, wie die Gleichgültigkeit durch Abwenden von der Außenwelt praktiziert werden. Kopfhörer schützen vor dem, was in der Welt vorgeht. Smartphones sind zu Sprech- und Textmaschinen mutiert, die jede Art von Aufmerksamkeit zerstören. Der Blick gilt dem Bildschirm oder dem Gesprächspartner, der irgendwo das Gleiche macht – er kommuniziert und die Welt um ihn herum ist zum Tabuthema erklärt. Nur so nebenbei können Sie beobachten, wie die Raumnutzung der mit sich selbst Beschäf- tigen aussieht. Das ist keine unkomplizierte Angelegenheit imUmgang miteinander. Schließ- lich haben wir zwei wesentliche Elemente zu koordinieren. Bewegung und Richtung innerhalb gegebener Straßen sowie Gegenstände, die da sind: Plakate, Bänke, Papierkörbe, Schilder aller Art, Haltestellen, Fahrradständer, Einfahrten nicht zuletzt entgegenkommende Mitläufer. Den Smartphon-Läufer stört das relativ wenig – er geht seine Wege und überlässt es seinen Mit- menschen entsprechende Ausweichmanöver vorzunehmen. So lässt sich schlussfolgern: Gleichgültigkeit ist als Selbstschutz zu verstehen, denn es bedeu- tet Abstand nehmen und sich von allzu vielen Ereignissen zurückziehen – kurz: Zeit gewinnen. Wenn sich das Gefühl der Gleichgültigkeit ein- stellt, kann das als Vorbote einer beginnenden Krise gedeutet werden – zum Beispiel: „Das ist mir ist alles zu viel“, oder wenn einem Zeitge- nossen alles egal ist. Ein anderer reagiert vielleicht auf den äußeren Druck dadurch, dass er eine „Überbelastung vortäuscht“, sich mit einer eigenen Meinung zurückhält oder sich außerstanden sieht, ein Urteil zu fällen. Er bewertet nicht, er ändert nichts und er will von nichts etwas wissen – au- ßer dem, was ihm im Leben wichtig erscheint. Kurz: Desinteresse und Abgestumpftheit sind seine Zeichen. Der gleichgültige Mensch bekommt nur wenig mit. Er reagiert nur dann, wenn es ihn interes- siert. Alles andere – wie man sagt: „geht an ihm vorbei“. ImBerufsleben ist Gleichgültigkeit aller- dings eine Eigenschaft die nicht besonders ge- fragt ist. Hier spielen Teamarbeit, Engagement, Aufmerksamkeit oder aktives Mitgestalten eine Rolle. Doch mancher Zeitgenosse übertrifft al- les, indem er mit Unwissenheit, Ignoranz oder Beschränktheit kokettiert. Einige psychologische Hinweise die den Zeit- geist des Gleichgültigen betreffen: • Die Monotonie am Arbeitsplatz ist ihm be- sonders lieb und recht. • Nichts kann den Gleichgültigen erregen, reizen oder berühren. • Was immer geschieht, den Gleichgültigen kümmert es wenig. • Der Gleichgültige ist schnell erschöpft, fühlt sich müde und schläfrig. • Die Stimme des Gewissens regt sich nicht mehr. • Der Gleichgültige lebt deshalb ganz in der Gegenwart, denn seine Vergangenheit ist ihm genauso belanglos wie die Zukunft. Der gleichgültige Mensch besitzt ein anderes Zeitgefühl. Denn, wenn es einem Zeitgenossen egal ist, was seine Mitmenschen denken und fühlen, dann wird der Gemeinsinn, das Zwi- schenmenschliche in Beziehungen ausgeschal- tet. Gemeinsam etwas unternehmen kostet Zeit, und der Gleichgültige will Zeit sparen. Auf diese Weise kann er sich auf das konzentrieren, was ihm behagt. Er geht noch weiter, indem er andere von seinen Überzeugungen und Ge- danken fernhält. Vorteil: Der Gleichgültige eckt nirgendwo an, er muss nichts vortäuschen, und er braucht an frühere Beziehungen nicht mehr anknüpfen. Der psychologische Hintergrund eines Gleichgültigen basiert auf Schwächen. Indem er allem aus demWeg geht, kann er sein Verhalten kaschieren. Andererseits sollten Sie auf Provokationen, un- faire Kritik oder persönliche Vorwürfe sich der Gleichgültigkeit bedienen, denn sich stur stellen, oder nichts an sich heranlassen, ist die gute Sei- te, nämlich sich in Gelassenheit zu üben. Werfen wir einen Blick auf verschiedene Perspektiven, um das Denken eines Gleichgültigen besser zu verstehen. 1.Unterkühlt imUmgang mit anderen. Das schafft Distanz, wirkt geheimnisvoll und kann sogar Züge der Überheblichkeit ausstrahlen. 2.Fehlendes Gemeinschaftsgefühl: Der Gleich- gültige braucht sich nicht zu stellen, keine Ver- antwortung übernehmen und am gemeinsamen Geschehen keinen Anteil haben. Gleichgültigkeit als stilles Leiden: Manche Zeitgenossen verzweifeln an der Welt, an der Gesellschaft oder an sich selbst. Ein Ausweg scheint es zu sein, die Ohren dicht zu machen, die Augen zu schließen und nur auf das zu hören, was das Innere sagt. Gleichgültigkeit ist eine Gesinnungsfrage: Wer keinen Anspruch an sich selbst erhebt, wer keine Ziele als wegweisend betrachtet, wer in den Tag hineinlebt, indem Spaß und gute Laune das tägliche Leben beherrschen, der hat jeden realen Kontakt zum Leben verloren. Leider wird das in allen gesellschaftlichen Schichten zum Lebensprinzip, nach dem Motto: zurückhalten, sich selbst der nächste sein und wegschauen, wenn es brenzlig wird. Der edle Mensch hilft seinen Mitmenschen, das Gute in ihnen zur Reife zu bringen, nicht aber das Schlechte. Der Niedriggesinnte tut das Gegenteil. Konfuzius Der Gleichgültige hat einen Bruder, nämlich den Phlegmatiker. Er neigt zur Langsamkeit und reagiert in vielen Lebenssituationen eher bedächtig. Ihm wird ein Mangel an Lebhaftigkeit unterstellt. Allerdings kann er auch diplomatisch und fried- liebend sein. Die Welt ist viel zu gefährlich um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen. Albert Einstein Zum Schluss noch eine Fabel zur Gleichgül- tigkeit: Ein Fuchs schlich sich an einen Weinstock her- an. Sein Blick hing sehnsüchtig an den dicken, blauen, überreifen Trauben. Er stützte sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte seinen Hals empor und wollte ein paar Trauben erwischen, aber sie hingen zu hoch. Verärgert versuchte er sein Glück noch einmal. Diesmal tat er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte nur ins Leere. Ein drittes Mal sprang er aus Lei- beskräften - so hoch, dass er auf den Rücken fiel. Nicht ein Blatt hatte sich bewegt. Der Fuchs rümpfte die Nase: "Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben." Mit er- hobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück. Aesop, griechischer Sklave und Fabeldichter, um 550 v. Chr.

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